Susann Tamoszus | 55, Berlin, Theaterpädagogin

Eine relativ lange Warteschlange vor dem Centre Georges Pompidou in Paris im März 2016. An der Fassade die Ankündigung einer Retrospektive von Anselm Kiefer. Ich kenne einige seiner großformatigen Bilder und seine Bleibibliothek aus dem Hamburger Bahnhof. Ich entschließe mich zu warten und fahre 30 Minuten später die gläsernen Rolltreppen an der Außenfassade der „Beaubourg“ hinauf in das obere Stockwerk.

Der Titel der Retrospektive „Bleischwere Kunst“ verweist auf das zu Erwartende. Man begegnet dem Werk des Künstlers in dieser Ausstellung auf vielfältige Weise: Bekannte symbolhafte und verschlüsselte Werke, die auf religiöse wie auf zeitgeschichtliche (Kriegs-)Ereignisse Bezug nehmen, vornehmlich der deutschen Geschichte. Begegnet einer Sammlung von Exponaten, Vitrinen und Bildern, die von innerer und äußerer Zerstörung und Verwüstung handeln, von sich immer wiederholender Geschichte, von Ende und Anfang zugleich. Blickt in menschliche Abgründe ebenso wie auf trostlose Landschaften. Oft sind archaische Objekte Bedeutungsträger, Originalmaterial und Dinge, die geschichtlich aufgeladen sind. Ich gehe durch viele Räume hindurch, nehme mir Zeit, die selten gezeigten Vitrinen zu betrachten, deren Inhalt, die morbide Schönheit des Zerfalls.

Fast am Ende der Ausstellung werden die Räume wieder größer und lichter und raumfüllende großformatige Bilder erwarten die Besucher. Räume voller Stille. Plötzlich schießen mir die Tränen in die Augen vor einem Bild: ein riesiges vertrocknetes Sonnenblumenfeld auf verbrannter Erde – ich lasse es geschehen … Überforderung, Teilhabe daran, dass es künstlerisch möglich ist, in so vielgestaltiger Form von Leid zu erzählen, Kunst, die mich berührt und verstört und Anstoß gibt, nicht gleichgültig zu werden. Für mich braucht es wahrscheinlich gerade jetzt diese physische Form der Trauer. Eine emotionale Momentaufnahme.

Etwas verwirrt und überwältigt sitze ich noch eine Weile im Foyer der Ausstellung, dann finde ich zum Ausgang. Und mit seltsam schwerem Gemütszustand auf den Platz de Pompidou tretend dringt erst nach und nach wieder der Vorfrühling der Stadt zu mir vor.

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