Renata Stromberger | 49, Erzieherin; Stuttgart

Eine Momentaufnahme

Ein lauwarmer Maiabend. Schnell laufe ich die Tübinger Straße runter, zwei schwere Einkaufstaschen in jeder Hand. Mein Vater hätte gesagt, dass ich wie eine Kuh mit der Glocke renne, aber das passt nicht zu der urbanen Umgebung. Viel mehr ähnele ich einem gut programmierten Roboter, der nüchtern und effizient seinen Alltagskram erledigt. Es bleibt noch viel zu tun. Ich hab’s eilig!

Kurz vor der Kreuzung mit der Christophstraße bleibe ich dennoch wie vom Blitz getroffen stehen. Denn das, was ich da sehe, stellt mich und mein ganzes eiliges Tun augenblicklich in Frage.

Ein Tanz nicht aus dieser Welt. Langsam, wie in der Zeitlupe bewegen sich zwei Körper an einem Ort, der für Beschleunigung und Hektik steht, auch wenn man hier das Tempo schon beträchtlich reduziert hat, es Fußgängern und Radfahrern angepasst hat. Die erste emotionale Reaktion eines Autofahrers, der hier nicht nur mit Schrittgeschwindigkeit kriechen, sondern jetzt auch noch anhalten muss, zeigt ganz deutlich, dass das hier nicht hingehört, dieser geisterhafte und keine Notiz von der Außenwelt nehmende Tanz.

Jetzt blende auch ich, die sich noch vor ein paar Sekunden wie der ungeduldige Autofahrer unbedingt fortbewegen wollte, Fahrzeuge und Passanten, Straßencafés und Geschäfte aus. Und sehe nur dieser bizarren Szene zu: Eine Umarmung zwischen einem jungen Mann und einer seltsam geschrumpften alten Frau – zärtlich, achtsam, auf einander zugehend, horchend, schweigend. Zwei Menschen. Oder nicht? Der Eine aus Fleisch und Blut. Und der Andere irritierend realistisch, doch nach genauem Hinsehen offenbar kein Echter, sondern eine Puppe aus Stoff, Silikon und Plastik. Kein Echter?

Was bewegt die Puppe? Wenn sie nicht weniger lebendig als ihr Tanzpartner – Mensch wirkt, dann frage ich mich, wer unter uns wirklich zu den Toten und wer zu den Lebenden gehört. Ich zum Beispiel war doch noch vor ein paar Minuten in meinem algorithmischen Modus tot. Vielleicht wurde auch der Spieler, den wir so selbstverständlich für lebendig halten, von der Puppe, der scheinbar toten Materie zum Leben erweckt?

Mir werden Kopfhörer gereicht. Ohne viel nachzudenken setze ich sie auf, und die Welle nimmt mich jetzt ganz mit. Eine ältere Frau beantwortet Fragen über den letzten Übergang, der ihr bevorsteht.

Schon als Kind mochte ich alte Frauen. Wir lebten mit meiner Großmutter zusammen, ihre Freundinnen und Verwandten, die Großtanten begegneten mir alltäglich. Meistens waren sie gesprächig. Aber manchmal saß man nur so da und schelte kiloweise Äpfel für Apfelmus, oder drehte Bettwäsche durch die Mangel. Und schwieg gemeinsam.

Der Dialog vom Band hat etwas davon. Er ist nicht eilig, Stille wiegt hier ebenso viel wie Worte. Die Gefragte schweigt, atmet. Erst dann erzählt sie von ruhigen Wellen. Das innere Auge der Frau schweift über das Meereswasser, und jetzt sehe auch ich, wie jedes einzelne Tröpfchen atmet, und durch unzählig viele solche Atemzüge unzählig viele Wellen entstehen. Ich atme mit. Die Frau sagt, diese Wellen werden sie einmal mitnehmen.

Die Grenzen verschieben sich, die Wellen werden größer. Ich lasse mich zu einem kleinen dance macabre in meinem Inneren mitreißen. Und dann bemerke ich viele andere Tanzpaare um mich herum.

Inspiration:
Atempause / Reprendre son souffle (DE) https://youtu.be/2LmxFFO2Ykc
Performance im öffentlichen Raum, Julika Mayer Marionnette contemporaine, Stuttgart/Strasbourg