Melanie Florschütz | 53, Theatermacherin; Berlin

Ich weiß nicht genau, wie alt ich war. Es war im Deutschunterricht, vielleicht in der 7. oder 8. Klasse. Der Lehrer gab uns ein Gedicht. Ich erinnere mich nicht, von wem es war. Ich sah das weiße Blatt Papier vor mir und sah darauf die Anordnung der Worte. Allein diese Anordnung wirkte ungewohnt. Es war ein Gedicht, das sich nicht an Regeln und Kommata hielt, sich nicht reimte und keinen einzigen zusammenhängenden Satz von sich gab. Doch jedes einzelne Wort hatte eine wirkliche Macht, sprang mir entgegen, verband sich mit anderen Worten in anderen Zeilen, schwirrte selbständig in meinem Kopf herum, um sich mit Farben, Geschmack und Gerüchen zu vermischen. Die Wörter taten, was sie wollten, hielten sich nicht an Regeln. Sie hörten nicht auf, immer Neues zu erzählen, obwohl es immer nur diese eine bestimmte Anzahl Wörter blieben. Ich war einfach nur geflasht. „Das ist Lyrik“, sagte der Lehrer.
Es gab also eine Parallelwelt, von der ich bisher nichts wusste. In der durften alle Regeln über den Haufen geschmissen werden, um zu zaubern.

Ich war zwischen 12 und 14 Jahren. Ich schaute Regionalfernsehen, nachmittags, im 3. Programm. Ich sah lichtdurchflutete helle Innenräume von zeltartigen Hütten, in denen sonst nichts weiter war. Die Räume waren aus hellem Stoff, in dem sich das Sonnenlicht sanft brach. Es war irgendwie draußen und irgendwie drinnen. Eine Frau führte durch die Räume und sah glücklich aus. Im Bericht wurde gesagt, dass das die Arbeit einer Künstlerin sei. Ich war vollkommen baff. Ich hatte keine Ahnung, was Künstler*innen machen. Solche schönen Räume nur für sich. Ohne Sinn und Zweck. In denen man einfach nur glücklich sein konnte. Die Räume selbst schienen mir die Verkörperung des Glücklichseins zu sein, außerhalb von Zeit und Raum, fast wie eine verlängerte Kindheit der schönsten Momente. Eine vollkommen neue Perspektive auf die Berufswelt tat sich mir auf. Glücklichsein wäre auch möglich.

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